Marino Marinis Skulpturen und Gemälde werden dominiert von Pferdedarstellungen. Der Künstler hat sich einem Thema verschrieben, das wie kaum ein anderes, auf eine lange Tradition in der westlichen Kunstgeschichte fußt: beginnend mit dem ikonischen Reiterstandbild des Marc Aurel aus dem 2. Jahrhundert über den „Gattamelata“ von Donatello in Padua (1453) und dem „Bartolomeo Corleoni“ von Verrochio in Venedig (1488), gefolgt von Tizians Darstellungen von Karl V. (1548) und viel später von Jacques-Louis Davids Napoleon, hoch zu Ross, die Alpen überquerend (1801).
Aber im Unterschied zu diesen rein politisch motivierten und pathetischen Reiterstandbildern der Vergangenheit, die in erster Linie die unantastbare Macht der dargestellten Herrscher verkörpern sollten, interessiert sich Marini für die ursprüngliche und elementare Kraft der Tiere und ihrer Reiter, aber auch für die Wandlung dieser Beziehung, die für ihn auch den Zustand der Menschheit im Allgemeinen symbolisiert.
Für Marini sind Pferd und Reiter eine Einheit, die am Beginn der menschlichen Zivilisation stehen, bzw. dessen Sinnbild sind. Es sind vor allem die Etrusker, die Marini faszinieren und die das Züchten und Zähmen der Pferde mit Intensität betrieben. Für Marini stellt dies den Zivilisationsakt schlechthin dar und die Verbindung von Natur und Mensch sieht er in der Einheit von Pferd und Reiter beispielhaft beschrieben. Eine Verbindung, die über die Jahrhunderte den heroischen Mythos der Kraft und Unbesiegbarkeit kreierte. Durch die Industrialisierung wird das Pferd als natürlicher Begleiter des Menschen, in all seinen Facetten, als Transportmittel, als Arbeitstier oder beim Militär allmählich ersetzt. Es wird zum reinen Sport- und Luxussymbol - doch der Mythos hat Bestand.
Die Inhumanität des Zweiten Weltkrieges stellt für Marini einen künstlerischen Wendepunkt dar: er erkennt darin das gesamte Drama von Tier und Mensch und im Grunde der gesamten westlichen Zivilisation. Marinis Reiter und Pferde reflektieren dieses Drama und entheroisieren den Mythos, sind Abbild der gesellschaftlichen Veränderungen, die Marini als Zeitzeuge miterlebte.
Während Marinis frühe Arbeiten noch runde und einfache Formen favorisieren, so werden die späteren Arbeiten zunehmend abstrakter und die rundlichen Formen verschwinden zugunsten einer expressiven Geometrie oder treten zurück hinter abstrakten Chiffren. Die selbstverständliche Einheit von Reiter und Pferd wird mehr und mehr aufgelöst, der Reiter kann sich kaum noch auf dem Rücken des Pferdes halten und wird bisweilen ganz abgeworfen:
"Die Unruhe meines Pferdes nimmt mit jedem neuen Werk zu, der Reiter ist immer erschöpfter, er hat die Beherrschung über das Tier verloren und die Katastrophen, denen er erliegt, ähneln denen, die Sodom und Pompeji zerstört haben. Ich strebe danach, das letzte Stadium der Zerstörung eines Mythos sichtbar zu machen, des Mythos des heroischen und siegreichen Individualismus, des humanistischen Tugendmenschen. Mein Werk der letzten Jahre will nicht heroisch sein, sondern tragisch." (Marino Marini 1972)
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